Situation pflegender Angehöriger
Site: | VSBI Learning Center |
Course: | Schulung für Unterstützer*innen im Alltag - Bad Salzungen |
Book: | Situation pflegender Angehöriger |
Printed by: | Guest user |
Date: | Saturday, 24 May 2025, 6:51 AM |
Description
Hier finden Sie einen Text mit grundlegenden Informationen zur psycho-sozialen Situation pflegender Angehöriger.
1. Zahlen & Fakten
Ein Ihnen nahestehender Mensch ist erkrankt oder alt und pflegebedürftig. Für Sie ist es eine Selbstverständlichkeit, ja ein Bedürfnis, ihm/ihr zu helfen.
Die Bewältigung langfristiger Pflegebedürftigkeit ist eine neue Herausforderung moderner Gesellschaften vor allem vor dem Hintergrund von Frauenerwerbstätigkeit, Arbeitsmobilität und einer zunehmenden Zahl von Singlehaushalten. Viele Menschen in Deutschland werden von Angehörigen und Ehrenamtlichen betreut ohne die Unterstützung von Pflegediensten. Mehr als 32% aller Hauptpflegepersonen sind älter als 65 Jahre und gehören somit selbst zur älteren Generation. Die Hälfte der Hauptpflegepersonen ist zwischen 40 bis 64 Jahre alt, nur 11% sind jünger als 39 Jahre. Die Angehörigenpflege ist weiblich, Dreiviertel der pflegenden Angehörigen sind Frauen (27% Männer), wobei Männer hauptsächlich die Pflege ihrer Ehefrauen übernehmen, wenn sie schon selbst im Ruhestand sind. Dabei fühlen sie sich nicht moralisch verpflichtet ihre Frau zu pflegen, sondern sie tun dies aus freien Stücken, weil sie eine erfüllte Partnerschaft und ein eher rundes Berufsleben hinter sich haben (Langehennig 2012). Der Anteil pflegender Söhne steigt (z. Zt. 10%), pflegende Schwiegersöhne gibt es jedoch praktisch nicht. Von den pflegenden Angehörigen sind 32% berufstätig und 87% haben zusätzlich einen eigenen Haushalt. Die Hälfte der pflegenden Angehörigen klagen über eine hohe Belastung (BMAS 1996; Meyer 2006; SOEP 2010).
Zwei Drittel der Frauen geben an, die Pflege würde sie psychisch stark oder sehr stark bedrücken und auch ihre Partnerschaft belasten (R+V-Studie zu Frauen und Pflege 2012). Pflegende Männer und jüngere pflegende Angehörige fühlen sich durch die Pflege weniger stark belastet als ältere pflegende Angehörige und Frauen (Köhler 2013). Als besondere Gruppe unter den pflegenden Angehörigen sind minderjährige Kinder und Jugendliche zu nennen, die ihre kranken Eltern oder Geschwister pflegen, um die Familie aufrecht zu erhalten (Metzing 2012). Die meisten Menschen wünschen sich eine Pflege zu Hause. Dies entspricht dem gesellschaftlichen Ziel der Selbstständigkeit und dem Grundsatz ambulant vor stationär. Durch den demographischen Wandel nimmt der Bedarf häuslicher Unterstützung zu (Landtag NRW 2005).
Abbildung 4: Aufgaben pflegender Angehöriger (eigene Darstellung in Anlehnung an Gutzmann & Zink, 2005, S. 150-153)
Der klassische Begriff der familiären Pflege wandelt sich. Durch sich verändernde Familienverhältnisse sind pflegende Angehörige nicht nur direkte Familienmitglieder wie Ehepartner*innen, Kinder, Schwiegertöchter und Schwiegersöhne, Enkel, sondern auch zunehmend Freund*innen und Nachbar*innen. Der Entschluss eine/n Angehörigen zu pflegen ist von den Möglichkeiten und der Familienbeziehung geprägt.
Der Grad der individuellen Belastung des pflegenden Familienmitglieds hängt vom Verhältnis zwischen dem persönlichen Belastungsempfinden und den als belastend empfundenen Faktoren ab. Das jeweilige Belastungserleben und die Belastungsbewältigung sind subjektiv und individuell und werden vom Kontext sowie den Motiven beeinflusst (Gräßel 1998; Schnepp 2002).
2. Belastungsfaktoren
Eine Person aus Ihrem Umfeld ist erkrankt, alt oder pflegebedürftig; benötigt Unterstützung und für Sie ist es selbstverständlich geradezu ein Bedürfnis zu Helfen. Gleichzeitig tragen Sie aber auch die Verantwortung für Ihr eigenes Leben (Beruf, Kinder, eigene Krankheit). Eine/n Angehörige*n zu Hause zu pflegen, ist in jedem Fall eine große Herausforderung und ein Spagat zwischen dem Wunsch, helfen zu wollen und der Fürsorge sich selbst gegenüber. Und so selbstverständlich und erfüllend wie es sein kann, füreinander da zu sein und helfen zu können, so schnell kann sich der/die Pflegende dabei selbst in einer Situation wiederfinden, in der die Herausforderung zur Überforderung wird.
Die professionelle Pflegekraft hat gelernt, eine schützende emotionale Distanz zu ihren Patient*innen zu wahren, und für diese ist die Pflege ein Beruf mit festen Arbeits- und Erholungszeiten. Für pflegende Angehörige können sich sowohl aus der emotionalen Verbundenheit als auch aus dem Umstand heraus, dass die Pflege häufig neben dem Beruf und dem eigenen Privatleben zu meistern ist, vielfältige Schwierigkeiten ergeben. Nicht selten sind es auch ältere und gesundheitlich angeschlagene Menschen, die ihre Partner *innen pflegen.
3. Typische Belastungen
Wenn ein/e Angehörige/r Pflege benötigt, kommt es häufig zu einer Änderung der Rollenverhältnisse. Der Ehemann, der sich immer um die Behördenangelegenheiten gekümmert hat, kann das nicht mehr vollumfänglich selbständig tun. Oder die Ehefrau, die den Einkauf jeden Freitag erledigt hat, kann dies nicht mehr. Beide Seiten, Pflegebedürftige und Pflegende, müssen Schritt für Schritt lernen, mit der neuen Beziehung umzugehen und die Veränderungen zu akzeptieren.
4. Stress und Überforderung
Die nerven- und gefühlsaufreibenden Anforderungen, die mit der Organisation des Pflegealltags zusammenhängen, fordern die Psyche enorm heraus. Sie ist das „Organ“, das uns befähigt, den Alltag zu organisieren, Verantwortung zu übernehmen, Entscheidungen zu treffen, mitzufühlen und mitzuleiden. Dabei muss sie einiges aushalten – Zeitdruck, Sorgen, Ärger, Trauer, Enttäuschung, Schuldgefühle, Ängste, Zweifel, Einsamkeit – und trotzdem funktionieren. Sie steht unter Hochspannung und benötigt ab und zu Zeit, sich zu erholen. Doch gerade die Aufforderung: „Entspann dich mal!“ setzt viele pflegende Angehörige zusätzlich unter Druck. Schließlich haben sie schon genug um die Ohren und sollen sich jetzt auch noch entspannen, wie soll das gehen? Dafür ist einfach keine Zeit!
Was können Warnsignale für eine zunehmende körperliche und seelische Erschöpfung sein? Energiemangel, Schwächegefühl und chronische Müdigkeit, ein bleiernes Gefühl in allen Gliedern, das Gefühl, dass einem alles zu viel ist, Nervosität und innere Unruhe, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, ein Gefühl innerer Leere und Gefühlslosigkeit, Gereiztheit, Ärgergefühle, Angstgefühle, Schuldzuweisungen, das Gefühl, wertlos zu sein, Gedanken der Sinnlosigkeit, keine Lust auf Kontakte mit anderen Menschen, Schlafstörungen, Magen-Darm-Beschwerden, Herz-Kreislauf-Störungen, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, geschwächte Abwehrkräfte, z.B. häufige Infekte.
5. Entlastung finden und sich selbst pflegen
Versuchen Sie den Kontakt zu anderen Menschen zu nutzen. Im Austausch mit anderen geschieht es automatisch, dass man ein wenig Abstand zur eigenen Situation gewinnt. Dieser bietet dann den Freiraum, den man benötigt, um sich zu entspannen und wieder Kraft zu sammeln.
Versuchen Sie herauszufinden, was der eigenen Seele guttut. Der Schlüssel zur seelischen Entlastung pflegender Angehöriger im Alltag ist in erster Linie in der Entspannung zu suchen. Entspannung lässt sich aber nur schwer erzwingen, denn sie bedeutet: loslassen können! Vielen pflegenden Angehörigen fällt gerade das sehr schwer. Mit Belastungen umgehen zu können, bedeutet auch herauszufinden, was der eigenen Seele guttut. Jede Seele tankt auf ihre Weise wieder auf, maßgeblich ist dabei, selbst zu spüren, was zur eigenen inneren Quelle werden kann.
Unterstützung können Sie auch durch eine Angehörigengruppe erfahren. Wer könnte tatsächlich mehr Verständnis für Ihre Situation als pflegende/r Angehörige*r in allen ihren positiven wie negativen Facetten aufbringen als jemand, der das Gleiche erlebt?
Manchmal hilft es auch, sich die Probleme von der Seele zu schreiben. Auch im Internet können Sie persönliche Unterstützung und Beratung erhalten. Sehr gut gemacht ist die Seite pflegen-und-leben, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert wird und eine anonyme, kostenfreie und datensichere Online-Beratung für pflegende Angehörige bietet.
Vorhandene Entlastungsmöglichkeiten nutzen Schulungen für pflegende Angehörige. Sie vermitteln Ihnen pflegerisches Wissen und dienen ganz erheblich der Entlastung. Ziel ist es, trotz aller Belastungen so viel Ruhe in Ihren Alltag zu bekommen, dass Sie das Gefühl haben, den vielen Anforderungen gewachsen zu sein. Dies ist ein schmaler Grat. Deshalb seien Sie aufmerksam, denn Ihre Gesundheit ist eine erschöpfbare Ressource in diesem Balanceakt.
Haben Sie ernsthaft das Gefühl, selbst Hilfe zu benötigen, können Sie sich an die kostenfreie Telefonnummer der Telefonseelsorge wenden oder sich gegebenenfalls auch professionelle Hilfe bei einem/r Ärzt*in oder Therapeut*in suchen.

0800/111 0 111
0800/111 0 222
0800/111 0 116 123
6. Quellen
- Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen e.V. (2013): Entlastung für die Seele – Ein Ratgeber für pflegende Angehörige. Bonn: Publikation Nr. 31.
- Gräßel, E. (1998): Belastung und gesundheitliche Situation der Pflegenden. Querschnittuntersuchung zur häuslichen Pflege bei chronischem Hilfs- und Pflegebedarf im Alter. Engelsbach: Hänsel-Hohenhausen- Verlag der Deutschen Hochschulschriften DHS.
- Langehennig, M.; Betz, D.; Dosch, E. (2012): Männer in der Angehörigenpflege. Weinheim: Beltz.
- Meyer, M. (2006): Pflegende Angehörige in Deutschland: Ein Überblick über den derzeitigen Stand und zukünftige Entwicklungen. Münster: LIT.
- Schnepp, W. (2002): Angehörige Pflegen. Hans Huber.